Jahrestagung des BPE in Kassel 2008

Zeichen der Kooperation Die Grußworte der eingeladenen Vertreter von Institutionen und Verbänden brachten zum Ausdruck, dass man sich trotz Diskurs und kritischem Dialog um Verständnis für die Probleme der Betroffenen und um die Zusammenarbeit mit den Betroffenenverbänden bemüht. Es sprachen Dr. Bernward Vieten, LWL-Klinik Paderborn, Herr Rosemann, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde e.V., Frau Dr. Bräunlich vom Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V., Frau Görres vom Dachverband Gemeindepsychiatrie und Frau Scholz von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. Ein ausführlicher Bericht folgte über die Krisenpension in Berlin, vorgetragen von Reinhard Wojke und Katrin Kempen, der demnächst im Internet auf der BPE-Seite nachgelesen werden kann. Wieder einmal fiel die Entscheidung schwer, an welcher Arbeitsgruppe man sich beteiligen wollte:

  1. AG 1 "Psychiatrie-Erfahrene wissen mehr", Dr. Norbert Südland
  2. AG 2 "Sich selbst annehmen oder die Falle des verordneten Versteckspiels, Ruth Fricke
  3. AG 3 "Psychose und Sucht: Sich selbst annehmen ist Voraussetzung für ein neues Leben", Jutta Alabi
  4. AG 4 "Internet und psychische Krise - Erkrankung: Chancen, Nutzen und Risiken für Betroffene", Dr. Joachim Hein
  5. AG 5 "Soteria, ein Behandlungskonzept, in dem man sich angenommen fühlt", Karin Haehn
  6. AG 6 "Alternative Krisenbewältigung: Windhorse, Krisenherberge, Ithaca, Soteria, Weglaufhaus, offener Dialog, Hotel Magnus Stenbock, Ikarusprojekt...", Peter Lehmann
  7. AG 7 "Psychiatrie-Erfahrene Eltern und ihre Kinder", Dagmar Barteld-Paczkowski
  8. AG 8 "Psychiatrie-Erfahrene Profis: Doppelrolle in der Psychiatrie, wie nutzen wir die für uns und andere?" Christine Pürschel
  9. AG 9 "Vermeidung dauerhafter Traumatisierung: kreativer Umgang mit Zwangsmaßnahmen", Doris Steenken und Vicky Pullen
  10. AG 10 "Heilende und helfende Wirkung vom Kontakt mit Tieren - wie Tiere helfen, heilen und lindern können", Monika Wagner fiel aus. Gangolf Peitz bot dafür spontan eine AG "Gedichte schreiben" an.

Bewegte Mitgliederversammlung Um 17 Uhr fand die Mitgliederversammlung des BPE statt. Nachdem im vorigen Jahr eine fast reibungslose Mitgliederversammlung geglückt war, ging es in diesem Jahr wieder hoch her. Es wurde in der bekannt aufreibenden Form diskutiert, weil es im Vorstand Auseinandersetzungen gegeben hatte. Sie schienen im Vorfeld bereits geglättet und wurden nun wieder aufgerollt. So sind wir nun einmal. Es wurde um Klarheit gerungen, auch um den Preis der Harmonie. "Was werden die neu Dazugekommenen davon halten?" Ich habe nachgefragt. Es geht ihnen genau wie mir damals: Sie sind fasziniert. Einigen Tagungsteilnehmern wurde das alles zu viel, sie tuschelten in den Ecken, dass das so nicht gehe. Man war hin und her gerissen. Dabei sollten wir uns klar machen, dass wir uns z.B. um Klaus Laupichler, dessen erneute Kandidatur umstritten war, keine Sorge machen müssen. Er hat einen Sitz im Vorstand der DGSP- auch ohne vom BPE dorthin abgesandt zu sein. Seine Beliebtheit steigt, wo er auch nur auftaucht. Im Vorstand des BPE wäre es wieder zu den altbekannten Reibereien gekommen. Als ihm das bewusst wurde, hat er selbst seine Kandidatur zurückgezogen. Wir alle müssen unsere Kräfte schonen, um sie sinnvoll einsetzen zu können. Jeder an dem Platz, wo er gerade steht. Der alte Vorstand wurde entlastet und durch die erneute Wahl bestätigt. Lediglich Elke Bücher führt die Kasse zukünftig außerhalb des Vorstands. Alle können zufrieden sein. Wirklich alle? Wenn da nicht der Neue wäre, den kaum einer kennt. "Er war mit René auf einem Foto" und aus Petersburg stammt er obendrein. Mikhail Zabrotski aus Berlin erntete manchen misstrauischen Blick. Nun ist er gewählt und wir werden sehen, was es bringt. Um 24 Uhr war - wie geplant - die Mitglieder-versammlung zu Ende. Die letzten Punkte der Tagesordnung wurden auf das nächste Jahr vertagt. Der Versammlungsleiter war zu bewundern. Dank an Jan Michaelis.

Outen oder nicht? Am Sonntag-Morgen bot Jutta Alabi um 8 Uhr eine Frühandacht an. Um 9 Uhr folgte der Vortrag von Matthias Seibt: "Sich als Psychiatrie-Erfahrene(r) outen oder nicht?" Matthias fasste sich wie immer kurz. Er hat dieses brisante Thema umfassend und klar vorbereitet, so dass noch viel Zeit blieb für die Erfahrungen der Teilnehmer der Tagung. Er sagte: "Andere Minderheiten, wie z.B. die Schwulen-Bewegung, haben viel gewonnen, indem sie sich outeten und zu ihrer Andersartigkeit bekannten. Man muss jedoch leider immer mit der Beschränktheit der Allgemeinheit rechnen und sollte sich nur dann outen, wenn man weiß: wie wohl ist man mir hier gesonnen. Bitten um Verständnis hilft nichts! Der Mensch ist nicht nur gut. Rückhalt findet man als Betroffener in der Selbsthilfebewegung." Das Spektrum der Erfahrungen der hier anwesenden Betroffenen ist groß: K. hat sich mit vollem Namen geoutet. Sie ist in ihrem kleinen Dorf in Bayern nie wieder in Brot und Arbeit gekommen und hat noch heute das Gefühl, dass sie bei ihren Selbsthilfetreffen wie eine terroristische Vereinigung abgehört wird. L. hat sein Schicksal angenommen. Er hat begriffen, dass nicht nur er betroffen ist Er wirkt sehr selbstbewusst und fröhlich und kommt mit seinem Leben jetzt sehr gut zurecht.

G. wurde in der Klinik gesagt: "Erzählen sie es keinem, was Sie hier erlebt haben". Er hält es jetzt jedoch so: Auf konkrete Fragen gibt er klare Antworten. "Die Fragen hören dann sehr schnell von alleine auf." Im Übrigen vertritt G. die Ansicht, dass ein Herzinfarkt schlimmer ist als eine psychische Krise. H. weiß von einem Spruch ihrer Mutter "Das meiste Böse geht in den Köpfen der Menschen vor." Sie stellt jedoch fest, dass die Bevölkerung der Problematik der psychischen Erkrankungen gegenüber oft viel aufgeschlossener ist, als man denken sollte. Die Psychiatrie und ihr Umfeld arbeite leider unter einer großen Dunstglocke der Geheimnistuerei und des Verschweigens. Dabei gebe es auch in der Psychiatrie nichts, was man nicht verstehen könnte. U. wollte eigentlich nicht darüber sprechen. Heute ist er so frei im Umgang mit seiner Erkrankung, dass er unbefangen vor Studenten von seinen Erfahrungen sprechen und seine Botschaft in der Normalität verbreiten kann.

C. aus München empfindet den Begriff Psychiatrie-Erfahrene als zu negativ. "Das klingt wie Folter-Erfahren". Nach ihrer Ansicht sind wir übersensibel und sozial kompetent und müssten gegen die Missstände in der Psychiatrie massiv vorgehen. Kuschelkurs bringe nichts. "Es sind Täter. Unsere Kritik muss wehtun." Daraufhin Einwurf von Matthias: "Wir sind nicht sensibler als andere. Wir sind aufgrund unserer Verletzungen empfindlicher und überschätzen uns bisweilen. Fehleinschätzung hat nichts mit Sensibilität zu tun." M. war im Studium, als die Krise kam. Sie hatte nicht die Kraft, sich zu offenbaren. "Man muss sich in einer Gruppe zusammentun, allein geht das nicht mit dem Outen." Geistig Behinderte werden nach ihrer Ansicht von der Allgemeinheit getragen. "Wir sind wohl der letzte Rest, auf dem man herumtrampeln kann". Sie hat es in ihrer letzten Krise nicht gewagt, über ihre Erkrankung zu sprechen und hat lieber ihre Stelle aufgegeben, als sie sich in Behandlung begeben musste. Nun ist die Stelle weg. Nach zwei Jahren ist das nun nicht mehr zu klären. J. wurde trotz ihrer Erkrankung zur Beamtin auf Lebenszeit ernannt. Die Kollegen wussten von Anfang an Bescheid, die Schüler jedoch nicht! Sie gibt demnächst ein Interview unter ihrem Mädchennamen, sie will damit ihre eigenen Kinder schützen.

Über die wahren Spinner Die daraufhin folgenden Berichte aus den 10 Arbeitsgruppen würden den Rahmen dieses Artikels sprengen. Sie werden im BPE-Rundbrief veröffentlicht werden und sollen auf der Internetseite des BPE eingestellt werden. Erwähnen möchte ich nur in aller Kürze die Ergebnisse der Arbeitsgruppe von Herrn Dr. Norbert Südland zum Thema "Therapeutische Mathematik", die auf wissenschaftlichem Weg z.B. zu der Erkenntnis führten, dass Schwarz-Weiß-Logik nicht ziel- führend ist und dass wahre Spinner sich dadurch auszeichnen, dass sie sich selbst für irrtumsfrei halten. Etwas ganz Besonderes waren auch die nicht enden wollenden "R"-Gedichte, die unter Leitung von Gangolf Peitz entstanden waren und die zu unserem Spaß von den Teilnehmern einer AG von den jeweiligen Sitzplätzen aus vorgetragen wurden. Ruth Fricke bedankte sich bei den zahlreichen Helfern mit einem kleinen Geschenk. Wir konnten uns bei dieser Jahrestagung über vielfältige Erfolg versprechende alternative Projekte im In- und Ausland informieren, die uns Mut machen, uns in die Strukturen der herkömmlichen Psychiatrie mit dem Selbstverständnis der eigenen Psychiatrie-Erfahrung einzumischen. Selbstbewusstsein entwickeln, eigene Fähigkeiten entdecken und ausprobieren dazu Gemeinsamkeit in der Selbsthilfe finden, ich denke, wir sind mit dieser Tagung ein großes Stück weitergekommen auf dem langen Weg:

 

Sich selbst annehmen und dann auch angenommen werden !

 

Über den Autor

Heidi Höhn Heidi Höhn arbeitet seit 1990 mit psychisch kranken Menschen, und gründete im Jahr 2000 die eigenständige Selbsthilfegruppe Forum Schmiede e.V.. Als Vorsitzende des Vereins sieht sie Ihre Aufgabe insbesondere darin, psychisch Kranke in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken und in das soziale Umfeld zu integrieren. Dazu veranstaltet Heidi Höhn nicht nur unterschiedliche Treffen, sondern auch Gesprächskreise und Seminare.